
Die magischen Augen von Stonehill


Leseprobe "Die magischen Augen von Stonehill"
Vorwort
Es gibt immer zwei Wahrheiten.
Wenn man von einer Begebenheit hört, erfährt man immer nur
einen Teil von dem, was geschehen ist. Man hört das, was der Erzähler für
wichtig hält, und so, wie der Erzähler es erlebt hat.Wenn der Nächste die gleiche Geschichte erzählt, hört man
vielleicht etwas ganz anderes. Obwohl beide dasselbe erlebt haben. Deswegen ist
es schwierig, zu entscheiden, wem man glaubt, denn jeder ist davon überzeugt,
seine Geschichte ist die richtige.
Gibt es also überhaupt eine wahre und eine falsche
Geschichte?
Ich finde, es ist nicht wichtig, ob eine Geschichte wahr ist
oder falsch.
Wichtig ist, dass es Geschichten gibt.
Es spielt keine Rolle, ob ihr am Ende dieses Buches den
Kindern aus Stonehill glaubt oder den Erwachsenen.Ich erzähle euch die Geschichte so, wie die Kinder sie
erlebt und mir erzählt haben, denn ihre Version hat noch niemand gehört, und
sie ist viel spannender als die der Erwachsenen.
Und genauso wahr.
Mindestens.
Und so fing alles an:Vor einiger Zeit bekam ich Post von meiner Freundin Christine.
Sie wohnt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Stonehill, einem kleinen
Städtchen im Osten Amerikas. Leider sehen wir uns sehr selten, denn Amerika ist weit weg,
aber E-Mails schreiben wir uns oft. In ihrer letzten Mail hatte Christine von
einem ungewöhnlichen Vorfall berichtet.
Du glaubst es kaum:
Bei uns ist an Silvester eingebrochen worden. Die Einbrecher haben den gesamten
Schmuck mitgenommen. Das Geld, den Fernseher und die Computer haben sie seltsamerweise
stehen lassen. Aber das Unglaublichste ist, dass diese Einbrecherbande am
gleichen Abend den ganzen Ort bestohlen hat!
Das Gute daran ist, schrieb Christine, dass sie jetzt in Stonehill keine Angst mehr vor Einbrechern zu haben
brauchten. So was passiert einem ja bestimmt nicht zweimal im Leben.Das fand ich höchst interessant. Aber nicht nur Christine hatte mir geschrieben. Ein paar
Tage später bekam ich ein Päckchen von ihrer Tochter Lucy. In dem Päckchen lagen ein dickes Heft mit vollgeschriebenen Seiten
und folgender Brief:
Ich schreibe Dir, weil
Du Kinderbücher schreibst, und Du lachst bestimmt nicht, wenn Du die wahre
Geschichte über den Einbruch liest. Alle sagen, das, was wir Kinder aus der
Maple Street über die Sache mit den Einbrechern erzählen, kann nicht so gewesen
sein und dass wir uns getäuscht haben müssen. Wir haben uns aber nicht
getäuscht, sondern es war genau so, wie wir es gesehen haben! Ich habe Dir die
Geschichte dazugelegt, und Du kannst mal gucken, ob sie gut ist, vielleicht wird
ja mal ein Buch draus. Da sind auch Zeitungsartikel dabei, wo so ein Blödsinn
drinsteht, dass einem schlecht wird. Damit Du mal siehst, was Erwachsene so
alles schreiben, obwohl es gar nicht stimmt. Wir Kinder finden, es ist nur
fair, wenn unsere Geschichte auch gelesen wird. Ich habe Dir alles genau so
aufgeschrieben, wie es wirklich war. Es steht alles in dem dicken Heft.
Ganz liebe Grüße,
Deine Lucy
Ich weiß nicht, was in Stonehill wirklich passiert ist. Aber ich finde, Lucy hat recht. Warum soll das, was die Kinder glauben, nicht genauso wichtig sein wie das, was die Erwachsenen glauben? Und deshalb könnt ihr jetzt Lucys Geschichte lesen.
1. Über Stonehill
Niemand hätte es für möglich gehalten, dass die Burrows es
schaffen würden, unsere ganze Stadt an der Nase herumzuführen. Es war das Spektakulärste, was je in Stonehill geschah,
sogar spektakulärer als die Fast-Beerdigung von Mrs Bedingshire, die gar nicht
tot war und von innen an den Sarg geklopft hat, als der Pfarrer gerade die
Grabrede hielt. Der Sohn von Mrs Bedingshire und ein paar andere Gäste machten
den Sarg auf, und Mrs Bedingshire wurde ins Krankenhaus gebracht. Zwei Tage
später war sie wieder die Alte und saß fröhlich am Kopfende des Tisches, als alle
gemeinsam das Beerdigungsessen aufaßen.
Mein großer Bruder Jeremy sagt, dass ich meine Geschichten
ruhig aufschreiben soll, weil in Büchern auch Sachen drinstehen dürften, die
nicht wirklich passiert sind. Er ist zwar erst sechzehn, aber genau wie die
Erwachsenen in unserer Stadt tut er so, als ob die Burrows ganz normale
Menschen gewesen wären und Cleopatra eine normale Katze.
Aber das stimmt nicht.
Es war alles ganz anders.
Der Tag, an dem alles begann, war der zehnte Oktober.Es war ein ganz gewöhnlicher Herbsttag in Stonehill. Draußen fegte der Wind durch die Bäume, und gelbe und orange Blätter segelten auf den Boden. Drinnen, in unserer Küche, war die übliche Morgenhektik im Gang. Mama machte Frühstück, und mein kleiner Bruder David packte seine Kindergartentasche. Er stopfte Kekse und unseren Goldfisch Dr. Watson hinein. Jeremy nahm Dr. Watson wieder raus und brachte ihn in seine Goldfischglaskugel zurück. Mein Zwillingsbruder Tim aß wie jeden Morgen seine Cornflakes und machte beim Kauen mit offenem Mund so einen Krach, dass ich ihn anstupste und die Milch aus der Schüssel schwappte.Während meine Mutter fluchte, dass vier Kinder am Morgen vier zu viel sind, machte sich mein Vater auf den Weg zur Arbeit. Er arbeitet, wie fast alle hier in Stonehill, in einem Berg und schlägt Edelsteine aus den Felsen. In den Hügeln um Stonehill gibt es nämlich eine Menge Quarze, die man aber erst mal aus den Hügeln rausklopfen muss, bevor sie zu Edelsteinen geschliffen werden können und schließlich glitzern und glänzen. Dann werden sie an Goldschmiede verkauft, die daraus Ketten und Ohrringe und anderen Schmuck machen. Alle, die die Steine aus den Hügeln klopfen oder schleifen oder verkaufen, bekommen den Schmuck billiger, und deswegen sehen alle Frauen in Stonehill aus wie geschmückte Weihnachtsbäume auf zwei Füßen. Das Einzige, was in Stonehill noch fehlt, sagte mein Vater, ist ein Edelsteinmuseum. Dann würden Leute von überallher kommen, um sich die Edelsteine anzusehen, und sie würden die glitzernden Edelsteine kaufen wollen, und dann verdient Papa mehr Geld, und wir kriegen einen Swimmingpool in den Garten.
Bisher kam niemand hierher, denn niemand will wirklich zusehen, wie Leute mit großen Schutzbrillen im Berg stehen und mit großen Hämmern in den Fels hauen. Ein Museum zu bauen ist aber irre teuer, sagte mein Vater. Wenn Stonehill eine Stadt wäre, hätte die Stadt genug Geld für so ein Museum. Für eine Stadt fehlten uns aber noch eine Handvoll Leute. Es ist nämlich so, dass aus einem Ort erst dann eine Stadt wird, wenn darin mindestens fünftausend Leute wohnen. Und in Stonehill wohnten damals nur viertausendneunhundertfünfundneunzig. „Wenn der Tag kommt, an dem aus Stonehill eine Stadt wird, fresse ich einen Besen“, sagte meine Mutter, denn jedes Mal, wenn ein paar Kinder zur Welt kamen und wir fünftausend Einwohner gewesen wären, starb garantiert kurz davor irgendwer, und es war wieder nichts mit der Stadt und dem Geld und dem Museum.
Vielleicht fragt ihr euch, warum ich von so was Langweiligem überhaupt erzähle, aber es ist deswegen wichtig, weil es wegen der Burrows dann schließlich doch eine Stadtfeier gab und an jenem Tag das Spektakulärste passierte, was je in Stonehill geschehen war.
An diesem Morgen wusste aber noch niemand, dass heute die
Geschichte beginnen würde, von der man in Stonehill wahrscheinlich in hundert
Jahren noch spricht. Wie ich schon sagte, es war ein ganz gewöhnlicher
Herbsttag.Als Tim und ich endlich aus dem Haus kamen, warteten die
anderen schon auf uns. Die anderen Kinder aus der Maple Street, das sind Annie
Clover, Owen Cline, Evan Carter, Tina Westermann und Jenny Garner. Jenny Garner ist meine Cousine und außerdem meine beste
Freundin. Manchmal ist es Tina Westermann, aber nur dann, wenn Jenny mal wieder
eine ihrer Launen hat. „Habt ihr den Text über die Geschichte von Stonehill
gelesen?“, fragte Jenny. Das war unsere Hausaufgabe für heute gewesen. Wir sollten
nämlich ein wenig mehr über Stonehill erfahren, hatte unsere Lehrerin gesagt,
aber da gab es nicht viel zu lesen. Der Text füllte gerade mal zwei Seiten in unserem
Schulbuch. „Ja“, sagte Evan, „aber ich bin dabei eingeschlafen. Ich
wette, nirgendwo auf der Welt ist es so langweilig wie hier.“
Er wusste ja nicht, wie unrecht er hatte.
2. Viola
Noch bevor die erste Schulstunde begann, war es in unserer
Klasse schon richtig rundgegangen.
Jimmy Woods hatte sich mit Evan Carter geprügelt,Owen Cline hatte Mallory Lesters Wasserfarbkasten von ihrem
Pult geklaut und mithilfe von Tom Severin auf dem Klassenschrank versteckt, und
Jeannie Pitts heulte wie ein Schlosshund, weil Annie Clover „Pitbull, Pitbull“
gerufen und dazu gebellt hatte wie ein Hund.Irgendwann kam unsere Lehrerin Mrs Hersham hereingeschossen.
Sie nahm das große Lineal, das neben der Tafel hing, und schlug damit so fest
auf den Tisch, dass es sich durchbog.
„Ich mache Kleinholz aus euch“, brüllte sie, „und damit baue
ich eine Wallfahrtskirche!“
Das wirkte. Niemand wollte als Holzstückchen in der Wand
einer Wallfahrtskirche enden, und dass Mrs Hersham aus uns Kleinholz machen würde,
daran bestand kein Zweifel.
Mrs Hersham war groß und kräftig, und auch ihre hellrosa
Kleidung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie alles andere als harmlos
war.
„Sie sieht aus wie ein Marshmallow“, hatte Owen Cline
damals gesagt, als Mrs Hersham zum ersten Mal in ihrem hellrosa Mantel in unser
Schulzimmer gedampft kam wie ein Schneepflug. Seitdem nannten wir Mrs Hersham
heimlich Marshie. Marshie konnte
richtig wütend werden, und wir verstummten alle augenblicklich, als Marshie
sich vorne am Pult aufbaute wie ein über dem Feuer aufschäumendes Marshmallow.
„Ich muss noch mal ins Lehrerzimmer“, verkündete Marshie.
„Wenn ich zurückkomme, ist hier alles tipptopp in Ordnung. Wer auch immer es
war, der den Wasserfarbkasten auf den Schrank gelegt hat, holt ihn runter und
gibt ihn zurück. Und Annie, wenn ich dich noch einmal bellen höre, bringe ich
dich höchstpersönlich ins Tierheim. Hunde gehören nicht in meine Klasse.“
Marshie lässt keine Gelegenheit aus, uns daran zu erinnern,
dass Tiere in unserer Klasse nicht erwünscht sind. Das hat einen guten Grund,
aber davon erzähle ich später.

Etwas Besonderes über dieses Buch
Zu dem fiktiven (= ausgedachten) Ort "Stonehill" gibt es ein reales (= wirkliches) Vorbild:Das Örtchen Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz. Das ist von meinem Heimatort nur etwa 40 Kilometer entfernt und ich war als Kind oft mit meiner Familie dort, um genau wie die Erwachsenen in Stonehill Edelsteine aus den Felsen, die die Stadt umgeben, zu schürfen.
Hier könnt ihr euch mehr zu Idar-Oberstein und seiner Edelsteinmine ansehen:
Edelsteinmine Idar-Oberstein
"Ein tolles Kinderbuch, spannend und auch gruselig zugleich. Geheimnisse, magische Fähigkeiten und Gruselfaktor, alles in diesem Buch!"
Lesezirkel, November 2015
Katzenspuk in Stonehill!
Schwarze lange Haare, immer lila gekleidet: Seitdem Viola in Lucys Klasse geht, ist Schluss mit der Langeweile in Stonehill. Hier lebt Lucy mit ihren drei Geschwistern und ihren Eltern. Viola bringt sogar ihre Katze Cleopatra mit den merkwürdig funkelnden Augen mit in die Schule, obwohl es ein striktes Tierverbot gibt. Aber wieso ist Mamas Smaragdring verschwunden, nachdem Viola bei ihnen zu Besuch war? Und kann Viola tatsächlich in die Zukunft schauen?
Temporeich, voller Überraschungen und Witz: der neue packende Kinderroman der Erfolgsautorin Juma Kliebenstein!
